Siemens bringt vollständige 5G-Campusnet-Lösung und Test-Lab

Vor drei Jahren kam Siemens mit einem 5G-Router auf dem Markt – und versprach mehr für das Jahr 2023. Nun schickt sich der Konzern an, sein Versprechen einzulösen. Dabei geht es nicht nur um Technik – sondern auch um einen Paradigmenwechsel für den Automatisierungshersteller. 

Auf der Hannovermesse präsentierte Siemens erstmals seine Lösung für industrielle 5G-Campus-Netzwerke. Schon seit 2020 im Programm ist der Scalance MUM856-1, der dank IP65-Gehäuse outdoor oder direkt auf Maschinen oder mobilen Einheiten montiert werden kann. Daneben gibt es den Scalance MUM853-1, der als kompaktere Variante für den Einsatz im Schaltschrank gedacht ist.

Komplette Campusnet-Lösung aus einer Hand

Die Radio-Unit der Siemens-5G-Lösung… (Bild: FUENF-G.de)

Die Radio-Unit der Siemens-5G-Lösung… (Bild: FUENF-G.de)

In diesem Jahr kommen nun alle weiteren Bausteine hinzu, die benötigt werden, um ein 5G Private Network vollständig auf Basis von Siemens-Technologie aufzubauen. Zu den Komponenten des Funkzugangsnetzes (Radio Acces Network, RAN) zählen die Benutzerausrüstung (UE) – also die bereits erwähnten Router –, die Funkbasisstationen (Next Generation NodeB, gNB) mit ihren Antennen sowie die Steuerungs- und Datenverarbeitungstechnik, die sich bei 5G auf Central Unit (CU), die Steuerung, Authentifizierung und Mobilitätsmanagement umfasst, sowie eine Distributed Unit (DU) mit Funktionen zur Datenverarbeitung und -übertragung. Diese werden auf Siemens eigenen Industrie-PCs (IPC) gehostet.

Generell sei die Strategie gewesen, Bausteine des Telekommunikationsmarktes aufzugreifen und sie für die Nutzung im Rahmen von Industrie 4.0 anzupassen. An erster Stelle ist hier ein eigener 5G-Core zu nennen, um das Campusnet zu betreiben. Der deutsche Industriekonzern greift dabei auf vorhandene Technologie zurück und hat diese weiterentwickelt, um den Anforderungen von industriellen und kleinen bis mittleren Unternehmen gerecht zu werden. In einer ersten Phase stammen auch die RAN-Einheiten noch von einem ungenannten ODM-Hersteller. Im kommenden Jahr werde man dann die komplette Hardware aus eigener Hand anbieten, so Daniel Mai, der vor Kurzem die Verantwortung für den Bereich von Sander Rotmensen übernommen hatte.

Paradigmen-Wechsel

… und die Core-Unit. (Bild: FUENF-G.de)

… und die Core-Unit. (Bild: FUENF-G.de)

Für Siemens bedeutet die Bereitstellung einer vollständigen Vernetzungslösung für ein privates industrielles 5G-Unternehmensnetz auch eine veränderte Positionierung. Während man bislang als „Automatisierer“ wahrgenommen worden war, der mit seinen Produkten die Use-Cases und Anwendungen im Industrie-4.0-Umfeld unterstützt, rücke man nun stärker in die Rolle eines Infrastruktur-Anbieters und werde stärker mit strategischen Fragen und übergreifenden Integrationsanforderungen konfrontiert, führte Mai im Gespräch mit FUENF-G.de aus. Darauf müsse man sich beispielsweise im Vertrieb einstellen und mehr Consulting bieten.

Während die Präsentation der 5G-Campus-Lösung auf der Hannovermesse im April eher ein „stiller“ Launch war, wurde die Eröffnung des Industrial Connectivity Lab in Erlangen gebührend gefeiert. Eingebettet in das Siemens Technology Center auf dem Campus Erlangen ermöglicht das 300 Quadratmeter umfassende Testlabor umfangreiche Praxistests verschiedener Verbindungslösungen. So hat Siemens bei der Bundesnetzagentur eine eigene 5G-Lizenz im Industrie-Spektrum bei 3,7 GHz erhalten, mit der auch Kunden auf dem Gelände eigene Erfahrungen mit dem neuen Mobilfunkstandard sammeln können. Daneben sind auch Industrielles WLAN, Echtzeit-Lokalisierungssysteme (RTLS) und Radiofrequenz-Identifikation (RFID) verfügbar. So können verschiedene Szenarien, auch in Kombination der Technologien, nachgestellt werden. Darüber hinaus sind mittels ADSL-Verbindungen auch Remote-Anwendungen Teil des Testportfolios.

(Bild: Siemens)

(Bild: Siemens)

„Vielen Anwendern fällt es schwer, den Nutzen und die Rahmenbedingungen von Funktechnologien im eigenen Betrieb einzuschätzen. Das Industrial Connectivity Lab bietet unseren Kunden den großen Vorteil, dass sie verschiedene Konnektivitäts-Technologien kombinieren und unter Industriebedingungen mit uns testen können.“

Axel Lorenz, CEO Process Automation bei Siemens

 

Praxistests laufen

Lorenz sieht enormen Bedarf an passgenauen Kommunikationslösungen, der aus der zunehmenden Konvergenz von OT und IT in Industrieanlagen erwächst. 5G ist der jüngste Baustein, mit dem Siemens nun zunächst im Heimatland startet, ebenso in Brasilien, das für die Industrie im gleichen Frequenzbereich (3,7-3,8 GHz) Spektrum bereitstellt. Andere Märkte sollen folgen, soweit sie in diesem oder angrenzenden Bändern Möglichkeiten bieten. Andere Frequenzbereiche würden erst später abgedeckt.

Daniel Mai hat jetzt die Leitung der 5G-Unit von Sander Rotmensen übernommen (Bild: Siemens)

Daniel Mai hat jetzt die Leitung der 5G-Unit von Sander Rotmensen übernommen (Bild: Siemens)

Wie sich die Technologie in der Fertigung nutzen lässt, testet Siemens sowohl in Zusammenarbeit mit einigen Kunden, als auch im eigenen Haus. Die Siemens-Produktionsstätte Manufacturing Karlsruhe (MF-K) ist mit der eigenen 5G-Campuslösung ausgestattet, um agile Arbeitsabläufe und flexible Produktionsanpassungen zu ermöglichen. Insbesondere mobile Anwendungen profitieren von der 5G-Anbindung, namentlich die Intralogistik mit ihren fahrerlosen Transportsystemen (FTS) sowie den autonomen mobilen Robotern (AMRs), die Bauteile und Halbzeuge in der fließenden Matrix-Produktion zum nächsten Modul liefern, wo sie weiter bearbeitet werden sollen.

Ein weiterer Test, in Kooperation mit Modemchip-Hersteller Qualcomm, befasst sich mit dem Einsatz von 5G für smarte Gebäudetechnik. Dieser läuft am Siemens-Standort Chicago, wo ein privates 5G-Heimnetzwerk im CBRS-Spektrum unter anderem Vernetzung und Verwaltung von Heizungs-, Lüftungs- und Klimaanlagen (HVAC) übernimmt. Zu den untersuchten Anwendungsfällen zählen sowohl eine verbesserte Energieeffizienz als auch reduzierte Kosten, erhöhte Sicherheit und proaktive Wartung in Smart Buildings.

Weitere Bausteine im Umfeld

Schon seit mehreren Jahren hat Siemens 5G-Router im Programm. Vor einem Jahr ergänzte Siemens diese um Profinet-over-5G-Funktionalität mittels Virtual Extensible LAN, kurz VXLAN, in Kombination mit Industrial Security Appliances der Reihe Scalance S. VXLAN überbrückt die Layer-2-basierte Profinet-Kommunikation mit einer Layer-3-Kommunikation für die drahtlose Übertragung und ermöglicht so eine robuste und zuverlässige Maschine-zu-Maschine-Kommunikation in Echtzeit.

Ein weiterer Baustein für die wachsende IT-OT-Konvergenz ist das Field Data Enablement (FDE). Diese Lösung, die sowohl per Hardware wie per Software realisiert werden kann, setzt wiederum auf Profinet auf und verschafft darüber der IT Zugriff auf Felddaten von Geräten, die keine permanente Bus-Verbindung mit der Automatisierung bzw. Steuerung haben oder nur über IO-Link mit dem dezentrale Peripherie-System verbunden sind.

Siemens verfolgt Politik der ruhigen Hand

Der deutsche Industrie-Konzern sieht sich nach wie vor auf einem guten Kurs. Der Markt für 5G-Campusnetze komme gerade erst ins Laufen. Bislang seien mehrheitlich Proof-of-Concept-Projekte vorangetrieben worden. Zwar werde man die Weiterentwicklung bei Siemens wie geplant vorantreiben, zum Beispiel auch die Umstellung auf Release 16. Doch werde man sich nicht auf übertriebene Versprechungen oder enge Zeitpläne einlassen – insbesondere, weil man nicht alle Entwicklungen in der eigenen Hand hat.

Gerade die Umstellung auf 5G Release 16 ist dafür das beste Beispiel. Bislang angebotene Lösungen, auch die von Siemens, beruhen auf Release 15 des 3GPP-Standards. Welche Verbesserungen und Neuerungen die Industrie von der nächsten 5G-Version erwarten darf, haben wir hier für Sie zusammengestellt.

Für Siemens ist ein Lösung dann „R16“, wenn sie alle Anforderungen des Standards, die für die Industrie relevant sind, erfüllt. Die Umsetzung obliegt jedoch den Chipherstellern – und die sehen sich teilweise auch dann schon auf R16-Kurs, wenn nur ein Teil des Standards umgesetzt ist. Hier will Siemens im Interesse der Kunden – wie schon in der Vergangenheit – eher zurückhaltend agieren. Das Unternehmen rechnet jeweils mit mindestens drei Jahren zwischen der Verabschiedung eines Standards und dessen Umsetzung „in Silizium“, sprich: der entsprechenden Chips.

Tatsächlich haben viele Chiphersteller angekündigt, Ende 2023 oder Anfang 2024 R16-kompatible Chips bereitzustellen – aber anfangs eben nicht alle Spezifikationen zu erfüllen.

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