6G-ANNA ist ein führendes Forschungsprojekt zum Mobilfunk der sechsten Generation. (Bild: Rohde & Schwarz)

Bis 2030, so hoffen die beteiligten Forscher und Firmen, wird 6G Marktreife erreichen und die nächste Stufe der drahtlosen Kommunikation einläuten. Denn auch die sechste Generation des Mobilfunks ist mehr als nur ein weiterer Übertragungsstandard. Neuartige Architekturen und Dienste sollen die physische und die virtuelle Welt noch enger miteinander verschmelzen lassen. Die Grundlagen dazu werden unter anderem im deutschen Forschungsprojekt 6G-ANNA gelegt.

Mit einem eingängigen Namen startete ein umfangreiches Projekt zur Vorbereitung der nächsten Mobilfunkgeneration: 6G-ANNA ist das Forschungsvorhaben betitelt, als Kurzform für 6G-Access, Network of Networks, Automation & Simplification. Dahinter steht eine Systemarchitektur, die sich auf drei Säulen gründet: dem 6G-Zugangsnetz („Access“), der Integration heterogener Endgeräte und Subnetze mit dem Mobilfunknetz („Netz der Netze“), sowie den Themen Automatisierung und Vereinfachung. Wichtige Aspekte ausgewählter Anwendungsfälle wie Subnetze, Extended Reality (XR) und Digitale Zwillinge (Digital Twins) in Echtzeit sollen ebenfalls umgesetzt und als Machbarkeitsstudien vorgestellt werden.

In dem auf drei Jahre angelegten Verbundprojekt, welches durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird, arbeiten 29 renommierte nationale Partner zusammen, um die 6G-Forschung und -Standardisierung voranzutreiben. Beteiligt sind Unternehmen wie Vodafone, Ericsson und Nokia, Bosch, Siemens und Airbus, PHYSEC und Rohde & Schwarz, dazu einige Fraunhofer-Institute und etliche Universitäten. Die gesamte Liste ist auf der Website des BMBF zu finden. Wir stellen Ihnen hier einige der Projektpartner und ihre Beiträge zur 6G-Entwicklung vor.

6G: Technische und gesellschaftliche Ziele

Mit diesem Leuchtturm-Projekt will die Bundesregierung die deutsche und europäische Forschung im Bereich 6G unterstützen, die Entwicklung der Technik aktiv gestalten und – gemeinsam mit anderen europäischen Initiativen – bereits im Vorfeld des Standardisierungsprozesses eine Führungsrolle einnehmen, die einen relevanten Einfluss auf die Gremienarbeit sichert.

Die nächste Generation der mobilen Datenkommunikation soll dazu beitragen, die Digitalisierung voranzutreiben und einer hypervernetzten Wirtschaft und Gesellschaft den Weg bereiten. Deutschland und die EU sind deshalb bestrebt, dass 6G-Lösungen nicht nur technisch leistungsfähige, sondern auch vertrauenswürdige und nachhaltige Systeme sind, die den Handlungsgrundsätzen und Werten der Europäischen Union von Grund auf Rechnung tragen. Das richtet ich insbesondere gegen China und dessen wachsende Bestrebungen, Überwachungsmöglichkeiten in die technischen Spezifikationen neuer Standards zu integrieren.

Natürlich sind auch wirtschaftliche Ziele mit 6G-ANNA verbunden: Der Aufbau von Know-how, die Ansiedlung einer Fertigung von Schlüsselkomponenten in Deutschland und die Berücksichtigung der Anforderungen deutscher Leitindustrien sollen dazu beitragen, die technische Souveränität Deutschlands und der EU zu stärken. Gegenüber dem Handelsblatt sagte die Bildungsministerin:

Quelle: Bundesregierung/Guido Bergmann

Quelle: Bundesregierung / Guido Bergmann

„6G ist eine riesige Chance für Deutschland, die wir nutzen müssen. Die 6G-Forschung schafft die Voraussetzung für Innovationen und Wachstum“.

Bettina Stark-Watzinger, Bundesministerin für Bildung und Forschung

 

Nokia geht voran

Die Leitung des zum 1. Juli 2022 gestarteten Projekts mit einem Gesamtvolumen von 38,4 Mio. Euro liegt in den Händen von Nokia. Der finnische Mobilfunkkonzern übt hierzulande umfangreiche Forschungstätigkeiten aus. Nokia wird eng mit dem Verbundkonsortium zusammenarbeiten und mit weiteren Projekten der gesamten 6G-Förderinitiative kooperieren. Darunter befinden sich beispielsweise vier universitäre 6G-Hubs mit mehr als 60 Lehrstühlen. Im internationalen Kontext soll 6G-ANNA die 6G-Förderinitiative maßgeblich darin unterstützen, sich mit 6G-Projekten in Europa und darüber hinaus auszutauschen, Innovationen im Bereich 6G global voranzutreiben und die 6G-Standardisierung zu gestalten.

Quelle: Nokia

Quelle: Nokia

„Mit 6G-ANNA führt Nokia das wichtigste staatlich geförderte 6G-Leuchtturmprojekt in Deutschland an. Auch wenn die ersten 6G-Netze voraussichtlich nicht vor 2030 kommerziell verfügbar sein werden, legen wir mit diesem Forschungsvorhaben bereits jetzt die technischen Grundlagen. Wir sorgen so für langfristig angelegte Innovationen, die die 6G-Entwicklung national und international vorantreiben werden.“

Peter Merz, Head of Nokia Standards

Nach Einschätzung von Nokia wird 6G nicht nur auf bestehenden Technologien und Systemen aufbauen, sondern auch disruptive Innovationen in die Gesamtarchitektur integrieren und somit auch neue Anwendungsfelder erschließen. Nicht weniger als ein neuformuliertes Konzept der Netzkommunikation erwarten die Finnen. Sie soll durch eine hochgradig agile und kognitive Architektur ermöglicht werden. Diese stellt automatisch neue Dienste bereit, welche optimal auf diese Anwendungen zugeschnitten sind, optimiert die Verbindungen mittels integrierter KI und stellt nicht nur die Verbindung zu unzähligen Sensoren her – das Netz selbst wird zum Sensor. Letztendlich werden zukünftige Netze die menschliche, die physische und die digitale Welt zunehmend miteinander verschmelzen, so die Erwartung der 6G-Forscher. In sechs Szenarien macht Nokia diese Vision in seinem 6G-eBook anschaulich.

Vorstoß in die Terahertz-Region

Projektpartner Rohde & Schwarz kündigte an, seine bereits umfassenden Forschungen zu 6G und verwandten Technologien, die das Unternehmen unter dem Titel #Thinksix betreibt, in das Forschungsvorhaben mit einzubringen. Dazu zählen zum Beispiel (Sub-)THz-Kommunikation, Joint Communication and Sensing (JCAS), künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen (ML) oder rekonfigurierbare intelligente Oberflächen (RIS).

Die wichtigsten Fortschritte in der Evolution von 5G und 6G (Bild: Rohde & Schwarz)

Die wichtigsten Fortschritte in der Evolution von 5G und 6G (Bild: Rohde & Schwarz)

 

Insbesondere die Datenübertragung auf Frequenzen jenseits von 100 GHz, wie im D-Band (Sub-THz-Bereich, 110 GHz bis 170 GHz) oder im H-Band (bei 300 GHz bzw. 0,3 THz) stellt die Forschung vor neue Herausforderungen. Rohde & Schwarz hat bereits vor Jahren gemeinsam mit Partnern damit begonnen, Sende-/Empfangsmodule, Signalgeneratoren, 2D- und 3D-Antennentechnik sowie einen geeigneten Signal- und Spektrumanalysator zu entwickeln. So stehen heute beispielsweise Over-the-Air-Tests (OTA-Test) mit Bandbreiten von 2 GHz für die 6G-Forschung zur Verfügung. Geeignete Sende- und Empfangs-Dioden hat beispielsweise das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) entwickelt. Mit ihnen könnten künftig enge Innenstadtnetze geknüpft werden, wie der Beitrag „6G funkt von jeder Laterne“ darlegt.

Ausfallsicherheit von 99,999999999 Prozent

Ebenfalls Teil der 6G-ANNA-Forschungsinitiative ist die Technische Universität München (TUM). Hier ist das 6G Zukunftslabor Bayern angesiedelt. Projektleiter Prof. Wolfgang Kellerer ist zugleich einer der beiden Sprecher der Plattform Thinknet 6G von Bayern Innovativ, einem weiteren Baustein der bayerischen Initiative, die alle relevanten Akteurinnen und Akteure vernetzen will.

Zentrale Ziele des 6G-Zukunftslabors sind größte Ausfallsicherheit, kürzeste Latenzzeiten, höchste Energieeffizienz und neue Verfahren, die auch beim Einsatz von Quantencomputern Datensicherheit bieten. Damit sollen die Grundlagen gelegt werden für Hightech-Anwendungen wie beispielsweise Tele-Operationen, für die eine Ausfallsicherheit von 99,999999999 Prozent angestrebt wird. Aber auch die Zusammenarbeit von Mensch und Roboter, beispielsweise in der Pflege, muss ohne Probleme funktionieren. Dazu ist neben Ausfallsicherheit auch eine äußerst geringe Latenz nötig. Schließlich könnte eine falsche Reaktion schon binnen Sekundenbruchteilen dazu führen, dass der Roboter jemanden verletzt oder etwas zerstört.

Der Mobilfunk entwickelt sich weiter – 2030 könnte 6G starten. (Bild: Nokia)

Der Mobilfunk entwickelt sich weiter – 2030 könnte 6G starten. (Bild: Nokia)

 

Ein weiterer Forschungsschwerpunkt sind digitale Zwillinge: Sowohl virtuelle Abbilder eines Objekts oder einer Produktionsanlage als auch des Netzwerks selbst sollen es ermöglichen, das Netzwerk zu trainieren und für seine Aufgaben zu optimieren, auch mithilfe Künstlicher Intelligenz 8KI) und Maschinellem Lernen (ML).

Kollaboratives „Netzwerk der Netze“

Die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) ist im Verbund von 6G-ANNA für die Entwicklung eines neuen Netzwerkkonzepts verantwortlich: Context-aware Collaborative 6G IIoT Networking for Autonomous Systems. Hier sind besonders drei Aspekte wichtig:

  • Zunächst gibt es statt einem zentralen Netzwerk viele eigenständige Subnetzwerke, was auch als „Network of networks“ bekannt ist.
  • Ein enormer Vorteil ist dabei die Unabhängigkeit von einer zentralen Stelle. Unabhängig bedeutet aber nicht isoliert, stattdessen besteht so mehr Potential für gegenseitige Unterstützung und Wachstum. Die einzelnen Netzwerke leben vom Arbeiten und Austausch miteinander und tragen zur gegenseitigen Weiterentwicklung und Optimierung bei.
  • Zudem sind sie anpassungsfähig in Bezug auf ihre Umgebung.

Neben industrieller Fertigung gelten Anwendungen im Bereich Smart City als perfekter Einsatzbereich für solche kollaborativen 6G-Netzwerke, wo ohne zuverlässige Vernetzung bei Versorgungsausfällen große Schäden drohen. Selbstständig steuernde Drohnen, beispielsweise für Transportaufgaben innerhalb der Stadt, Prozesse wie kollisionsfreies und sicheres autonomes Fahren oder die gemeinschaftliche Bearbeitung von Gütern werden von den Eigenschaften dieser Netze profitieren, ist Prof. Dr. Norman Franchi überzeugt. Der Inhaber des Lehrstuhls für Elektrische Smart City Systeme und sein Team vertreten die FAU im 6G-ANNA-Projekt.

Quelle: FAU

Quelle: FAU

„Im Falle von 6G werden Smart Cities ein perfekter Einsatzbereich sein. Laut Prognosen sollen bis 2050 zwei Drittel der Bevölkerung in Städten leben. Eine stabile Verbindung von Infrastruktur, öffentlichen Einrichtungen, Unternehmen und Menschen wird noch wichtiger sein als sie es heute schon ist.“

Prof. Dr. Norman Franchi, FAU

 

Über die Weiterentwicklung von 5G, das Potenzial von 6G für Smart Cities und die Bedeutung von Ökosystemen bei der Digitalisierung hat Fuenf-G.de im April mit Prof. Franchi gesprochen. Sehen Sie hier das Video im Rahmen unserer Gesprächsreihe „5 Fragen an …“

Neben dem Industrieprojekt 6G-ANNA ist die FAU auch im Open6GHub vertreten. Hier geht es um reine Grundlagenforschung für nachhaltige, energieschonende und sichere Netzwerke. Darüber hinaus ist die FAU über den Beitrag von Norman Franchi auch Teil der vom BMBF geförderten „6G-Plattform – Die Plattform für zukünftige Kommunikationstechnologien und 6G“. Mit dieser Initiative wird die Erstellung wissenschaftlicher Beiträge gefördert und die Umsetzung des deutschen bzw. europäischen 6G-Programms wissenschaftlich und organisatorisch begleitet.

Digitale und technische Souveränität mit 6G

Offenbar hat man aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Denn bei der Entwicklung von 5G spielte Deutschland praktisch keine Rolle, und trotz der starken europäischen Akteure Ericsson und Nokia spielten beim Aufbau der 5G-Netze in der EU zunächst auch chinesische Anbieter eine starke Rolle. Das änderte sich erst als die Politik Zweifel bekam, ob man eine zentrale Infrastruktur der Wirtschaft Unternehmen anvertrauen kann, die möglicherweise dem Einfluss eines Staates unterliegen, der nicht nur zunehmend totalitär nach innen auftritt, sondern auch zumindest autoritär nach außen.

Lange wurde in Europa verkannt, wie China seine Position strategisch ausbaute, um Einfluss auf technische Entwicklungen zu nehmen. Ein ungewöhnlich hoher Anteil an Führungspositionen in Standardisierungsgremien und immer neue Vorstöße chinesischer Unternehmen, Möglichkeiten zur Überwachung oder zum Datensammeln in Standards einzufügen, zeigen, dass die technische Entwicklung nicht frei von politischer Einflussnahme ist.

Die Unterbrechungen von Lieferketten, sei es durch Corona-Lockdowns, technische Probleme in großen Produktionsstätten oder diverse Probleme der Logistikbranche, haben Wirtschaft und Politik die Schattenseiten der massiven Produktionsverlagerung nach Asien vor Augen geführt. Masken und Medikamente, aber eben auch Computerchips und Akkus sind nur einige der Produkte, bei denen wir von außereuropäischen Lieferanten weitgehend abhängig sind.

Die Politik hat endlich reagiert und die Entwicklung der zukünftigen Kommunikationsinfrastruktur zu einer europäischen Aufgabe erklärt. 6G-ANNA ist dazu ein zentrales Projekt, aber längst nicht das einzige, wie beispielsweise die Initiative 6GKom und andere Forschungsvorhaben belegen. Entwickler-Know-how, Einfluss auf die Standardisierung und eine regionale Fertigung werden dazu beitragen, dass Deutschland und Europa Souveränität zurückgewinnen – sowohl bei der Weiterentwicklung der Technik als auch bei ihrem Einsatz für den Ausbau der Digitalisierung.